DER LEBENSBAUM

Von den Felsen von Tel’naeír aus flog Saphira dicht über den wogenden Wald, bis sie die Lichtung erreichten, wo der Menoa-Baum stand. Dicker als hundert der gigantischen Kiefern, die ihn umgaben, ragte er wie ein mächtiger Pfeiler in den Himmel und das Dach seiner Baumkrone wölbte sich Tausende Fuß weit. Das knorrige Wurzelnetz breitete sich von dem massiven moosbewachsenen Stamm mehr als zehn Morgen über den Waldboden aus, bevor es sich vor den Wurzeln der kleineren Bäume tief in die Erde bohrte und verschwand. Um den Menoa-Baum war die Luft feucht und kühl, und aus dem Nadelwerk senkte sich ein feiner, beständiger Nebel herab, der die ausladenden Farne wässerte, die sich um den Stamm drängten. Eichhörnchen tobten durch die Äste des alten Baumes und das hohe Gekreisch und Gezwitscher aus Hunderten von Vogelkehlen brach aus den dunklen Tiefen seines Laubwerks hervor. Auf der ganzen Lichtung spürte man die Gegenwart einer schützenden Hand, denn der Baum hatte einst die Elfe Linnëa in sich aufgenommen, deren Geist nun über das Wachsen und Gedeihen des Menoa-Baumes und des Waldes jenseits von ihm wachte.
Eragon suchte das unebene Gelände zwischen den Wurzeln nach irgendeiner Waffe ab, aber wie schon einmal konnte er nichts entdecken, was so aussah, als könne man damit in die Schlacht ziehen. Er hob ein Stück Borke auf, das zu seinen Füßen ins Moos gefallen war, und hielt es hoch. Was meinst du, Saphira, fragte er, ob ich damit einen Soldaten umbringen könnte, wenn ich es mit genügend Zauberkraft vollpumpe?
Du könntest einen Soldaten mit einem Grashalm umbringen, wenn du es wolltest, sagte sie. Aber was Murtagh und Dorn oder den König und seinen schwarzen Drachen angeht, könntest du anstelle dieses Stücks Borke auch gleich mit einem nassen Strang Wolle auf sie losgehen.
Du hast recht, sagte er und warf es weg.
Ich denke, sagte sie, du solltest dich nicht erst zum Narren machen müssen, damit sich Solembums Worte erfüllen.
Nein, aber vielleicht sollte ich es anders angehen, wenn ich diese Waffe finden will. Du hast selbst gesagt, es könnte genauso gut ein Stein oder ein Buch sein wie eine Klinge. Ein Stab aus einem Ast des Menoa-Baumes wäre auch eine würdige Waffe, finde ich.
Aber kaum mit einem Schwert zu vergleichen.
Nein.... Außerdem würde ich es nicht wagen, ohne Erlaubnis des Baumes einen Ast abzuschlagen, und ich habe keine Ahnung, wie ich Linnëa dazu bringen sollte, mir diese Bitte zu gewähren.
Saphira bog den sehnigen Hals zurück und schaute in den Baum hinauf, dann schüttelte sie sich, um die Tropfen loszuwerden, die sich an den scharfen Rändern ihrer facettierten Schuppen gebildet hatten. Eragon kreischte auf, als ihm das kalte Wasser ins Gesicht spritzte, und machte einen Satz rückwärts. Sollte irgendjemand es wagen, den Menoa-Baum zu verletzen, sagte sie, würde er wohl kaum lange genug leben, um seinen Fehler zu bereuen.
Mehrere Stunden lang suchten die beiden die Lichtung ab. Eragon hörte nicht auf zu hoffen, dass sie zwischen den verknoteten Wurzeln auf einen Spalt stoßen würden, aus dem die Ecke einer vergrabenen Kiste ragte, in der dann ein Schwert läge. Wenn Murtagh Zar’roc hat, das Schwert seines Vaters, dachte Eragon, dann müsste ich von Rechts wegen das Schwert bekommen, das Rhunön für Brom gemacht hat.
Es hätte auch die richtige Farbe, bemerkte Saphira. Sein Drache, meine Namensschwester, war auch blau.
Verzweifelt sandte Eragon schließlich seinen Geist zu dem Menoa-Baum aus und versuchte, den unendlich zäh fließenden Strom seiner Gedanken zu erreichen, um ihm alles zu erklären und ihn um Hilfe zu bitten. Aber er hätte genauso gut versuchen können, mit dem Wind oder dem Regen zu reden, denn der Baum nahm nicht mehr Notiz von ihm als er von einer Ameise, wenn die ihre Fühler nach seinen Stiefeln ausstreckte.
Enttäuscht verließen sie den Menoa-Baum, als die Sonne gerade den Horizont küsste. Von der Lichtung aus flog Saphira ins Zentrum von Ellesméra, wo sie sanft im Schlafzimmer des Baumhauses landete, das ihnen die Elfen zur Verfügung gestellt hatten. Es bestand aus kugelförmigen Räumen, die in der Krone eines kräftigen Baumes Hundert Fuß über der Erde ruhten.
Eine Mahlzeit aus Früchten, Gemüse, gekochten Bohnen und Brot wartete bereits im Speisezimmer auf Eragon. Nachdem er ein wenig davon gegessen hatte, rollte er sich neben Saphira in der mit Decken ausgelegten Vertiefung im Boden zusammen. Das Bett ließ er unberührt, denn er bevorzugte Saphiras Nähe. Hellwach lag er da, während sie sofort fest einschlief. Von seinem Platz an ihrer Seite aus sah er zu, wie die Sterne über dem mondbeschienenen Wald aufgingen, und dachte an Brom und seine geheimnisvolle Mutter. Spät in der Nacht glitt er schließlich in den tranceartigen Zustand seiner Wachträume und sprach dort mit seinen Eltern. Er konnte nicht hören, was sie sagten, denn ihre Stimmen waren gedämpft und undeutlich, aber irgendwie spürte er ihren Stolz und ihre Liebe. Obwohl er genau wusste, dass sie nur Trugbilder seines ruhelosen Geistes waren, bewahrte er die Erinnerung an ihre Zuneigung seit dieser Nacht stets in seinem Herzen.
 
Im Morgengrauen führte ein zierliches Elfenmädchen Eragon und Saphira durch die Straßen von Ellesméra zum Anwesen der Familie Valtharos. Während sie zwischen den dunklen Stämmen der riesigen Kiefern hindurchgingen, fiel Eragon auf, wie leer und ruhig die Stadt war, verglichen mit ihrem letzten Besuch. Er entdeckte nur drei Elfen zwischen den Bäumen, hochgewachsene, anmutige Gestalten, die auf leisen Sohlen davonhuschten.
Wenn die Elfen in den Krieg ziehen, bemerkte Saphira, bleiben nur wenige zurück.
Wohl wahr.
Lord Fiolr erwartete sie im Innern einer gewölbten Halle, die von etlichen schwebenden Werlichtern erhellt wurde. Er hatte ein langes, strenges Gesicht, das kantiger war als bei den meisten Elfen, sodass es Eragon an einen Speer mit dünner Schneide erinnerte. Er trug ein Gewand in Grün und Gold, dessen Kragen hoch aufgestellt war wie die Halsfedern eines exotischen Vogels. In der linken Hand hielt er einen weißen Holzstab, in den Schriftzeichen aus dem Liduen Kvaedhí geschnitzt waren. Auf der Spitze saß eine glänzende Perle.
Lord Fiolr verbeugte sich steif und Eragon erwiderte die Verbeugung. Dann begrüßten sie sich auf die traditionelle Art der Elfen, und Eragon bedankte sich bei Lord Fiolr für seine großzügige Erlaubnis, sich das Schwert Támerlein anzusehen.
Schließlich sagte der Lord: »So lange ist Támerlein nun schon das hochgeschätzte Eigentum meiner Familie und es liegt ganz besonders mir am Herzen. Kennt Ihr die Geschichte von Támerlein, Schattentöter?«
»Nein«, erwiderte Eragon.
»Meine Gefährtin war die überaus weise und schöne Naudra. Ihr Bruder Arva war zur Zeit des Niedergangs Drachenreiter. Naudra war gerade bei ihm zu Besuch in Ilirea, als Galbatorix und die Abtrünnigen über die Stadt hinwegfegten wie ein Sturm aus dem Norden. Arva kämpfte an der Seite der anderen Drachenreiter, um Ilirea zu verteidigen, doch Kialandí, ein Abtrünniger, versetzte ihm einen tödlichen Stoß. Als er sterbend auf den Zinnen von Ilirea lag, gab Arva Naudra sein Schwert Támerlein, um sich damit zu verteidigen. Sie konnte sich freikämpfen und kehrte mit einem anderen Reiter und seinem Drachen hierher zurück. Jedoch starb sie bald darauf an ihren Verletzungen.«
Mit einem Finger strich Lord Fiolr über den Stab und die Perle begann leicht zu schimmern. »Támerlein ist mir so kostbar wie die Luft in meinen Lungen. Ich würde mich eher von meinem Leben trennen als von diesem Schwert. Doch unglücklicherweise sind weder ich noch meine Verwandten würdig, diese Waffe zu führen. Támerlein ist für einen Reiter gemacht und Reiter sind wir nicht. Ich bin bereit, Euch das Schwert zu leihen, Schattentöter, um Euch in Euerm Kampf behilflich zu sein. Dennoch wird Támerlein im Besitz des Hauses Valtharos verbleiben, und Ihr müsst mir versprechen, es zurückzugeben, wann immer ich oder meine Erben es verlangen.«
Eragon gab ihm sein Wort, dann führte Lord Fiolr ihn und Saphira zu einem langen polierten Tisch, der aus dem lebenden Holz des Fußbodens herauswuchs. Am einen Ende befand sich ein reich verzierter Ständer und darauf ruhten das Schwert Támerlein und seine Scheide.
Die Klinge strahlte in einem satten Dunkelgrün, ebenso wie die Scheide. Den Knauf schmückte ein großer Smaragd. Das Heft war aus gebläutem Stahl. Die Parierstange war mit einer Reihe von Schriftzeichen verziert. Auf Elfisch stand dort: Ich bin Támerlein, der Bringer des ewigen Schlafes. Es hatte dieselbe Länge wie Zar’roc, aber die Klinge war breiter, die Spitze runder und das Heft massiver. Es war eine wunderschöne und tödliche Waffe, aber Eragon sah auf den ersten Blick, dass Rhunön Támerlein für jemanden mit einem anderen Kampfstil geschmiedet hatte als seinen. Dieses Schwert war ideal für einen Kämpfer, der sich hauptsächlich aufs Hauen und Stechen verließ, aber weniger geeignet für die schnelleren, eleganteren Techniken, die Brom ihm beigebracht hatte.
Sobald sich seine Finger um das Heft schlossen, merkte er, dass es für seine Hand zu groß war, und da wusste er, Támerlein war nicht sein Schwert. Anders als Zar’roc fühlte es sich nicht an wie die Verlängerung seines Armes. Und dennoch zögerte er, denn wo sonst konnte er hoffen, ein so stolzes Schwert zu finden? Arvindr, das andere Schwert, das Oromis erwähnt hatte, ruhte in einer Stadt, die Hunderte Meilen entfernt lag.
Da sagte Saphira: Nimm es nicht. Eine Waffe, mit der du in die Schlacht ziehst und von der dein und mein Leben abhängt, muss vollkommen zu dir passen. Alles andere genügt nicht. Im Übrigen gefallen mir die Bedingungen nicht, die Lord Fiolr an sein Geschenk geknüpft hat.
So legte Eragon das Schwert wieder auf den Ständer zurück, entschuldigte sich bei Lord Fiolr und erklärte ihm, warum er es nicht annehmen könne. Der hagere Elf wirkte nicht besonders enttäuscht. Eragon meinte im Gegenteil eine gewisse Genugtuung in seinem grimmigen Blick zu erkennen.
 
Von den Hallen der Familie Valtharos suchten sich Eragon und Saphira auf eigene Faust ihren Weg durch den düsteren Wald zu dem Laubengang aus Hartriegelsträuchern, der in den Innenhof von Rhunöns Haus führte. Als sie aus dem Gang traten, hörte Eragon das Klirren eines Hammers auf einem Meißel. Rhunön saß auf einer Bank neben der offenen Schmiede, die sich mitten im Hof befand, und arbeitete an einem Stahlblock, der vor ihr lag. Was einmal daraus werden sollte, konnte er nicht erkennen, denn das Stück war noch völlig roh.
»Du lebst also noch, Schattentöter«, sagte Rhunön, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Ihre Stimme war rau wie ein schartiger Mühlstein. »Oromis hat mir erzählt, dass du Zar’roc an Morzans Sohn verloren hast.«
Eragon zuckte zusammen und nickte, obwohl sie ihn gar nicht ansah. »Ja, Rhunön-Elda. Er hat es mir auf den Brennenden Steppen abgenommen.«
»Hm.« Rhunön konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit und ihr Hammer schlug mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf den Meißel. Schließlich hielt sie inne und sagte: »Dann hat das Schwert ja seinen rechtmäßigen Besitzer gefunden. Es gefällt mir zwar nicht, wozu dieser - wie hieß er? Ach, ja - Murtagh Zar’roc benutzt, aber jeder Drachenreiter verdient das richtige Schwert und ich kann mir für Morzans Sohn kein besseres vorstellen als die Klinge seines Vaters.« Sie blickte zu ihm hoch und runzelte die Stirn. »Versteh mich nicht falsch, Schattentöter, es wäre mir lieber, wenn du Zar’roc noch hättest, aber noch lieber wäre es mir, wenn du ein Schwert besäßest, das für dich gemacht wurde. Mag sein, dass Zar’roc dir gute Dienste geleistet hat, aber es hatte nicht die richtige Form für deinen Körper. Und erzähl mir bloß nichts von Támerlein. Du müsstest ein Narr sein zu glauben, du könntest damit umgehen.«
»Wie du siehst«, erwiderte Eragon, »habe ich es nicht von Lord Fiolr mitgebracht.«
Rhunön nickte und fing wieder an zu meißeln. »Dann ist es ja gut.«
»Wenn Zar’roc das richtige Schwert für Murtagh ist, wäre dann nicht Broms Schwert die richtige Waffe für mich?«
Rhunön runzelte die Stirn. »Undbitr? Wie kommst du denn darauf?«
»Weil Brom mein Vater war«, sagte Eragon und ein wohliger Schauer rieselte ihm den Rücken hinab.
»Ach, wirklich?« Die Elfe legte Hammer und Meißel aus der Hand und trat unter dem Dach ihrer Schmiede hervor, bis sie direkt vor Eragon stand. Sie war ein wenig krumm von den Jahrhunderten, die sie gebückt über ihrer Arbeit verbracht hatte, deshalb wirkte sie ein oder zwei Zoll kleiner als er. »Hm, ja, ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit. War ein rauer Bursche, dieser Brom. Hat immer gesagt, was er dachte, und nicht lange herumgeredet. Das hat mir gefallen. Ich kann das Getue meines Volkes nicht ausstehen. Sie sind mir einfach zu höflich, zu vornehm und zu edelmütig geworden. Ha! Ich weiß noch, wie die Elfen früher gelacht und gekämpft haben, wie jedes normale Wesen. Jetzt sind sie alle so reserviert, manche zeigen tatsächlich nicht mehr Gefühl als eine Marmorstatue.«
Meinst du damit, wie die Elfen waren, bevor sich unsere Völker verbündeten?, fragte Saphira.
Rhunön wandte sich zu ihr um. »Schimmerschuppe! Sei willkommen. Ja, ich rede von der Zeit, als der Bund zwischen Elfen und Drachen noch nicht besiegelt war. Die Veränderungen, die ich seither an ihnen beobachtet habe, würdest du kaum für möglich halten, aber so ist es nun mal. Und hier sitze ich, eine der wenigen, die sich noch daran erinnern können, wie es früher einmal war.«
Ihr Blick schoss zu Eragon zurück. »Undbitr ist keine Antwort auf dein Problem. Brom hat sein Schwert beim Untergang der Drachenreiter verloren. Wenn Galbatorix es nicht seiner Sammlung einverleibt hat, ist es vielleicht zerbrochen oder es liegt irgendwo zwischen den zerfallenden Knochen eines lange vergessenen Schlachtfelds in der Erde. Selbst wenn es noch zu finden wäre, würdest du es doch nicht rechtzeitig in Händen halten, bevor du deinen Feinden wieder gegenübertreten musst.«
»Was soll ich nur machen, Rhunön-Elda?«, fragte Eragon. Dann erzählte er ihr von dem Krummschwert, das er sich bei den Varden ausgesucht und mit Beschwörungen verstärkt hatte, und wie es ihn in den unterirdischen Gängen von Farthen Dûr im Stich gelassen hatte.
Rhunön schnaubte verächtlich. »Nein, so kann das niemals funktionieren. Wenn eine Klinge erst einmal geschmiedet und gehärtet ist, kann man sie zwar mit unendlich vielen Zaubern schützen, aber das Metall selbst bleibt so schwach wie zuvor. Ein Drachenreiter braucht eine Klinge, die die härtesten Schläge aushält und fast jeder Form von Magie widersteht. Nein, man muss die Beschwörungen über dem heißen Metall aussprechen, während man es schmiedet, um die Struktur des Metalls zu verändern.«
»Und wo bekomme ich so ein Schwert her?«, wollte Eragon wissen. »Würdest du mir eins schmieden, Rhunön-Elda?«
Die feinen Linien im Gesicht der Elfe vertieften sich. Sie kratzte sich am Ellbogen und die Muskeln an ihren Unterarmen traten hervor. »Du weißt, dass ich geschworen habe, nie wieder eine Waffe zu fertigen, solange ich lebe.«
»Ja.«
»Ich bin an meinen Eid gebunden. Ich kann ihn nicht brechen, sosehr ich es mir vielleicht auch wünschen mag.« Sie kehrte zu der Bank zurück und setzte sich wieder vor die Skulptur. »Und warum sollte ich auch, Drachenreiter? Sag mir das! Warum sollte ich noch einen Seelenräuber mehr auf die Welt loslassen?«
Eragon wählte seine Worte mit Bedacht. »Vielleicht weil du dazu beitragen könntest, Galbatorix’ Schreckensherrschaft zu beenden. Wäre es nicht angemessen, wenn ich ihn mit einer Klinge tötete, die du geschmiedet hast, nachdem er und die Abtrünnigen mit deinen Schwertern so viele Reiter und Drachen erschlagen haben? Du empfindest tödlichen Abscheu vor dem, was sie mit deinen Waffen angerichtet haben. Wäre es nicht ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit, wenn du mit deiner Kunst Galbatorix’ Untergang besiegeln würdest?«
Rhunön verschränkte die Arme und blickte versonnen zum Himmel. »Ein Schwert... ein neues Schwert. Nach so langer Zeit noch einmal mein eigentliches Handwerk ausüben...« Ihr Blick kehrte zu Eragon zurück und sie sagte mit vorgerecktem Kinn: »Es könnte... möglicherweise... einen Weg geben, dir zu helfen, aber es ist müßig, darüber nachzudenken, weil ich es sowieso nicht versuchen kann.«
Warum nicht?, fragte Saphira.
»Weil ich nicht das Metall habe, das ich brauche«, knurrte Rhunön. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich die Schwerter der Reiter aus gewöhnlichem Stahl gefertigt habe, oder? Nein! Vor langer Zeit stieß ich in Du Weldenvarden auf die Reste einer Sternschnuppe. Die Bruchstücke enthielten ein Erz, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, und so nahm ich es mit und veredelte es. Die Stahllegierung, die ich daraus gewann, war härter, widerstandsfähiger und biegsamer als irgendein Metall irdischen Ursprungs. Ich nannte es Sternenstahl, wegen seines ungewöhnlichen Glanzes, und als mich Königin Tarmunora bat, das erste Drachenreiterschwert zu schmieden, verwendete ich den Sternenstahl. Danach suchte ich bei jeder Gelegenheit im Wald nach weiteren Brocken der Sternschnuppe. Ich hatte nicht oft Glück, aber wenn ich etwas fand, bewahrte ich es für die Reiter auf.
Mit den Jahrhunderten wurde es immer weniger, bis ich zuletzt schon dachte, es wäre nichts mehr da. Ich brauchte vierundzwanzig Jahre, um die letzte Stelle zu finden. Mit der Ausbeute schmiedete ich sieben Schwerter, unter anderem Undbitr und Zar’roc. Seit dem Untergang der Drachenreiter habe ich nur ein einziges Mal nach dem Sternenstahl gesucht: Das war letzte Nacht, nachdem Oromis mit mir über dich geredet hatte.« Rhunön legte den Kopf schräg und ihre wässrigen Augen bohrten sich in Eragons Blick. »Ich bin kreuz und quer durch den Wald gelaufen und habe zahllose Zaubersprüche zum Finden und Binden gesprochen, aber ich bin nicht auf ein Körnchen Sternenstahl gestoßen. Wenn du etwas auftreiben würdest, könnten wir vielleicht über ein Schwert für dich nachdenken, Schattentöter. Sonst ist dieses Gespräch nichts als sinnloses Geschwätz.«
Eragon verbeugte sich vor der Elfe und bedankte sich für ihre Zeit, dann verließ er mit Saphira den Hof durch den grünen Laubengang.
Während sie Seite an Seite auf eine Lichtung zugingen, von der Saphira abheben konnte, sagte Eragon: Sternenstahl - das muss es sein, was Solembum gemeint hat. Unter dem Menoa-Baum muss Sternenstahl liegen.
Woher sollte er das wissen?
Vielleicht hat es ihm der Baum selbst erzählt. Spielt das eine Rolle?
Sternenstahl hin oder her, sagte sie, wie sollen wir an irgendetwas herankommen, was unter den Wurzeln des Menoa-Baumes liegt? Wir können doch nicht in die Wurzeln hacken. Wir wissen ja nicht mal, wo.
Ich muss darüber nachdenken.
 
Von der Lichtung nahe bei Rhunöns Haus flogen sie über Ellesméra hinweg zurück zu den Felsen von Tel’naeír, wo Oromis und Glaedr auf sie warteten. Nachdem Saphira Eragon abgesetzt hatte, hob sie mit Glaedr zusammen noch einmal von den Felsen ab, und die beiden zogen weit oben am Himmel ihre Kreise, genossen die Gesellschaft des anderen, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben.
Inzwischen brachte Oromis Eragon bei, einen Gegenstand von einem Ort zum anderen zu transportieren, ohne dass er die Strecke tatsächlich zurücklegen musste. »Für fast alle Formen der Magie gilt: Je größer die Entfernung zwischen dir und deinem Ziel ist, desto mehr Energie brauchst du zur Aufrechterhaltung der Beschwörung. Nicht so hier: Mit diesem Zauber kostet es mich genauso viel Energie, den Stein in meiner Hand ans andere Ufer des Flusses zu versetzen wie zu den südlichen Inseln. Deshalb ist er äußerst nützlich, wenn man etwas über so weite Strecken transportieren muss, dass der Energieaufwand einen normalerweise umbringen würde. Doch auch diese Magie ist kräftezehrend, und man sollte erst darauf zurückgreifen, wenn alles andere versagt. Wenn man zum Beispiel etwas so Großes wie Saphiras Ei versenden wollte, könnte man sich hinterher nicht mehr rühren.«
Dann brachte Oromis Eragon den Wortlaut der Zauberformel bei sowie einige Varianten. Als Eragon sie auswendig konnte, ließ er ihn einen Versuch mit dem Stein in seiner Hand machen.
Sobald Eragon die Worte ausgesprochen hatte, verschwand der Stein von Oromis’ Handfläche und tauchte kurz darauf mit einem blauen Blitz, einem lauten Knall und inmitten einer gewaltigen Hitzewelle auf der Lichtung wieder auf. Eragon zuckte zusammen und musste sich an einem Ast festhalten, weil seine Knie nachgaben und ihm die Kälte in die Glieder fuhr. Seine Kopfhaut kribbelte, und er musste unwillkürlich an Saphiras Ei denken, als er zu dem Stein hinüberblickte, der von verkohltem, niedergedrücktem Gras umgeben war.
»Gut gemacht«, sagte Oromis. »Kannst du mir jetzt sagen, warum es so geknallt hat, als sich der Stein im Gras materialisierte?«
Eragon lauschte auf jedes Wort, das Oromis sagte, aber während der gesamten Lektion konnte er nicht aufhören, an das Problem mit dem Menoa-Baum zu denken. Er wusste, dass es Saphira nicht anders ging, während sie hoch über ihnen dahinflog. Doch die Lösung schien in immer weitere Ferne zu rücken, je länger er nachdachte.
Als Oromis fertig war, fragte er Eragon: »Bleibt ihr nun länger in Ellesméra, nachdem du das Angebot von Lord Fiolr abgelehnt hast?«
»Ich weiß nicht, Meister«, erwiderte Eragon. »Ich möchte noch einen letzten Versuch mit dem Menoa-Baum unternehmen. Aber wenn es nicht klappt, bleibt uns nichts anderes übrig, als mit leeren Händen zu den Varden zurückzukehren.«
Oromis nickte. »Kommt noch ein letztes Mal hier vorbei, bevor ihr abreist.«
»Ja, Meister.«
 
Während Saphira mit Eragon auf dem Rücken dem Menoa-Baum entgegensegelte, sagte sie: Es hat bisher nicht funktioniert, warum sollte es jetzt klappen?
Weil es einfach muss. Oder hast du vielleicht eine bessere Idee?
Nein, aber das gefällt mir nicht. Wir wissen nicht, wie sie reagieren wird. Vergiss nicht, bevor Linnëa sich in den Baum sang, hat sie ihren jungen Geliebten umgebracht, weil er sie betrogen hatte. Vielleicht wird sie ja wieder gewalttätig.
Das wird sie nicht wagen, nicht solange du bei mir bist.
Hm.
Der Wind rauschte sanft unter ihren Flügeln, als Saphira auf einer höckerartigen Wurzel mehrere Hundert Fuß vom Stamm des Menoa-Baumes entfernt landete. Die Eichhörnchen in der gigantischen Kiefer stießen Warnschreie aus, als sie sie kommen sahen.
Eragon ließ sich auf die Wurzel hinabgleiten, wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und murmelte: »Gut, verschwenden wir keine Zeit.« Mit leichten Schritten und seitlich ausgestreckten Armen balancierte er die Wurzel entlang auf den Stamm zu. Saphira folgte ihm gemächlich, und die Borke, auf die sie trat, knackte und splitterte unter ihren Klauen.
Dann kauerte sich Eragon auf das glitschige Wurzelwerk und hielt sich mit den Fingern an einem Spalt im Stamm fest, um nicht abzurutschen. Er wartete, bis Saphira hinter ihm stand, dann schloss er die Augen, atmete tief die feuchte, kühle Luft ein und sandte seine Gedanken nach dem Baum aus.
Der Menoa-Baum verschloss sich nicht vor Eragons Geist, denn Linnëas Bewusstsein war so allumfassend und fremdartig, so eng mit der restlichen Waldflora verwoben, dass sie sich nicht zu verteidigen brauchte. Jeder, der den Baum unterwerfen wollte, musste gleichzeitig die geistige Herrschaft über weite Teile von Du Weldenvarden erlangen, eine Herausforderung, die ein Einzelner niemals bewältigen würde.
Von dem Baum strömte Eragon ein Gefühl von Wärme und Licht entgegen. Er spürte die Erde, die sich im Umkreis von Hunderten Schritten an seine Wurzeln schmiegte. Er spürte den Wind, der durch die verschlungenen Äste fuhr, und das klebrige Harz, das aus einem Schnitt in der Rinde sickerte, und er empfing eine Unmenge ähnlicher Empfindungen von anderen Pflanzen, die der Menoa-Baum bewachte. Doch verglichen mit der Blutschwur-Feier, bei der er vor Kraft und Lebendigkeit vibriert hatte, schien es fast so, als würde der Baum schlafen. Die einzige Gedankenregung, die Eragon auffangen konnte, war so lang und umständlich, dass er sie unmöglich verstehen konnte.
Da sammelte er seine ganze Energie und schleuderte dem Menoa-Baum einen Hilferuf entgegen. Bitte hör mir zu, oh ehrwürdiger Baum! Ich brauche deine Hilfe! Das gesamte Land befindet sich im Krieg, selbst die Elfen haben den Schutz von Du Weldenvarden verlassen, und ich habe kein Schwert, um mitzukämpfen. Die Werkatze Solembum hat mir geraten, unter dem Menoa-Baum zu suchen, wenn ich einmal eine Waffe brauchen sollte. Nun ist dieser Zeitpunkt gekommen! Bitte hör mir zu, oh Mutter des Waldes! Hilf mir! Während er sprach, sandte er Bilder von Dorn und Murtagh und den Armeen des Imperiums an den Geist des Baumes. Saphira fügte den Erinnerungen weitere hinzu und unterstützte Eragons Anstrengungen mit der Macht ihres eigenen Geistes.
Doch Eragon verließ sich nicht allein auf Worte und Bilder. Aus seinem und Saphiras Innern ließ er einen beständigen Energiestrom in den Baum fließen, ein Geschenk auf Treu und Glauben, mit der er auch die Neugier des Menoa-Baumes zu wecken hoffte.
Etliche Minuten vergingen. Der Baum reagierte noch immer nicht, aber Eragon wollte nicht aufgeben. Der Baum war viel langsamer als Elfen oder Menschen, sagte er sich, und es war zu erwarten gewesen, dass er nicht sofort antworten würde.
Wir können nicht viel mehr von unserer Stärke abgeben, sagte Saphira, sonst schaffen wir es nicht, rechtzeitig zu den Varden zurückzukehren.
Eragon ließ widerwillig den Energiestrom versiegen.
Während sie fortfuhren, auf den Menoa-Baum einzureden, erreichte die Sonne ihren Zenit und überschritt ihn. Wolken ballten sich zusammen, schrumpften wieder und zogen über den Himmel. Vögel schossen über die Bäume hinweg, Eichhörnchen schnatterten ärgerlich, Schmetterlinge taumelten von Ort zu Ort und eine rote Ameisenkolonne marschierte an Eragons Stiefeln vorbei, winzige weiße Larven in den Kieferzangen.
Da knurrte Saphira und alle Vögel in Hörweite flogen auf. Genug der Speichelleckerei!, erklärte sie. Ich bin ein Drache und lasse mich nicht ignorieren, nicht mal von einem Baum!
»Nein, warte!«, rief Eragon, der spürte, was sie vorhatte, aber sie hörte nicht auf ihn.
Sie trat vom Stamm des Menoa-Baums zurück, kauerte sich hin, grub die Klauen tief in die Wurzel unter ihr und riss mit einem gewaltigen Ruck drei große Streifen Holz heraus. Komm raus und rede mit uns, Elfenbaum!, brüllte sie, bog den Hals zurück wie eine angreifende Schlange, und ein Flammenstrahl schoss zwischen ihren Fängen hervor und tauchte den Baumstamm in weiß-blaues Feuer.
Die Hände vors Gesicht geschlagen, machte Eragon einen Satz zur Seite.
»Hör auf, Saphira!«, schrie er entsetzt.
Ich höre auf, wenn sie uns zur Kenntnis nimmt.
Eine dichte Wolke aus Wassertropfen regnete herab. Eragon schaute nach oben und sah, wie die Äste der Kiefer in zunehmender Erregung bebten und hin und her schwangen. Das Ächzen von Holz, das an Holz reibt, erfüllte die Luft. Gleichzeitig streifte ein eiskalter Windstoß Eragons Wange und er meinte ein leises Rumoren unter seinen Füßen zu verspüren. Als er sich umsah, stellte er fest, dass die Bäume, die die Lichtung säumten, jetzt größer und bedrohlicher wirkten als zuvor und ihm ihre gekrümmten Äste wie Krallen entgegenzustrecken schienen.
Eragon standen die Haare zu Berge.
Saphira... Er ging in die Hocke, um entweder zu kämpfen oder wegzurennen.
Saphira klappte das Maul zu und die Flammen erloschen, dann wandte sie sich von dem Menoa-Baum ab. Als sie die anderen Bäume sah, die sie drohend umringten, stellten sich ihre Schuppen auf wie das Nackenfell einer erbosten Katze. Sie schwenkte den Kopf hin und her und knurrte den Wald an, dann entfaltete sie die Flügel und wich von dem Menoa-Baum zurück. Schnell, steig auf.
Bevor Eragon einen Schritt machen konnte, schoss eine Wurzel, so dick wie sein Arm, aus dem Boden und wickelte sich um seinen Knöchel. Rechts und links von Saphira erschienen noch dickere Wurzeln und hielten ihre Füße und ihren Schwanz fest. Saphira brüllte wütend und reckte den Hals, um erneut Feuer zu speien.
Doch die Flammen in ihrem Maul flackerten nur und verloschen dann, als eine träge, flüsternde Stimme in ihren Köpfen ertönte, die Eragon an raschelndes Laub erinnerte: Wer wagt es, meinen Frieden zu stören? Wer wagt es, mich zu beißen und zu verbrennen? Nennt mir eure Namen, damit ich weiß, wen ich getötet habe.
Eragon verzog vor Schmerz das Gesicht, als sich die Wurzel fester um seinen Knöchel schloss. Noch enger, und sie würde ihm den Fuß brechen.Ich bin Eragon Schattentöter und das ist mein Drache Saphira Schimmerschuppe.
Sterbt wohl, Eragon Schattentöter und Saphira Schimmerschuppe.
Warte!, sagte Eragon. Ich bin noch nicht fertig damit, unsere Namen zu nennen.
Nach einer längeren Pause sagte die Stimme: Fahre fort.
Ich bin der letzte freie Drachenreiter von Alagaësia, und Saphira ist der letzte weibliche Drache, den es gibt. Wir sind vielleicht die Einzigen, die den Verräter Galbatorix stürzen können, der die Drachenreiter vernichtet und fast ganz Alagaësia besetzt hat.
Warum hast du mir wehgetan, Drache?, krächzte die Stimme.
Saphira bleckte die Zähne, als sie erwiderte: Weil du nicht mit uns reden wolltest, Elfenbaum, und weil Eragon sein Schwert eingebüßt hat und eine Werkatze ihm sagte, er solle unter dem Menoa-Baum nachsehen, wenn er eine Waffe braucht. Wir haben gesucht und gesucht, aber allein können wir sie nicht finden.
Dann stirbst du umsonst, Drache, denn da ist keine Waffe unter meinen Wurzeln.
In dem verzweifelten Bemühen, das Gespräch nicht einschlafen zu lassen, fügte Eragon schnell hinzu: Wir glauben, dass die Werkatze möglicherweise Sternenstahl gemeint hat, das Metall, aus dem Rhunön die Schwerter für die Drachenreiter geschmiedet hat. Ohne Sternenstahl kann sie mein Schwert nicht ersetzen.
Plötzlich bebte die Erde unter der sachten Bewegung des Wurzelwerks. Die Erschütterung verscheuchte Hunderte verängstigte Karnickel, Wühlmäuse, Murmeltiere und andere Kleintiere aus ihrem Bau.
Aus dem Augenwinkel sah Eragon Dutzende von Elfen auf die Lichtung zueilen, ihre silbernen Haare wehten wie Fahnen hinter ihnen her. Lautlos wie Geister blieben sie unter den Ästen der vordersten Bäume stehen und starrten ihn und Saphira reglos an, machten jedoch keinerlei Anstalten, ihnen zu helfen.
Eragon wollte gerade im Geiste nach Oromis und Glaedr rufen, als die Stimme sich wieder meldete. Die Werkatze wusste, wovon sie sprach. Tief unten an meinen Wurzeln ist ein Klumpen Sternenstahl vergraben, aber ihr bekommt ihn nicht. Ihr habt mich verletzt. Das verzeihe ich euch nicht.
Eragons Erregung über das Erz mischte sich mit Panik. Aber Saphira ist der letzte weibliche Drache! Du willst sie doch sicher nicht töten!
Drachen speien Feuer, wisperte die Stimme, und ein Schauder fuhr durch die Bäume am Rand der Lichtung. Und Feuer muss man auslöschen.
Saphira knurrte erneut. Wenn wir den Mann, der die Drachenreiter vernichtet hat, nicht aufhalten, dann wird er herkommen und den ganzen Wald anzünden. Auch dich wird er vernichten, Elfenbaum. Wenn du uns hilfst, können wir ihn vielleicht noch aufhalten.
Ein Knarzen hallte zwischen den Bäumen wider, als irgendwo zwei Äste aneinanderrieben. Wenn er versucht, meine Ableger zu töten, wird er sterben, sagte die Stimme. Niemand ist so stark wie der ganze Wald. Niemand kann glauben, den Wald zu besiegen, und ich spreche für den Wald.
Reicht die Energie, die wir dir geschenkt haben, nicht aus, um deine Wunden zu heilen?, fragte Eragon. Ist sie nicht Wiedergutmachung genug?
Der Menoa-Baum gab keine Antwort, stattdessen erforschte er Eragons Bewusstsein und fuhr dabei wie ein Windstoß durch seine Gedanken. Was bist du, Drachenreiter?, fragte der Baum. Ich kenne alle Wesen, die in diesem Wald leben, aber jemand wie du ist mir noch nicht begegnet.
Ich bin weder Elf noch Mensch, sagte Eragon. Ich bin etwas dazwischen. Die Drachen haben mich bei der Blutschwur-Feier verwandelt.
Warum, Drachenreiter?
Damit ich stärker bin im Kampf gegen Galbatorix und das Imperium.
Ich erinnere mich, ich spürte während der Zeremonie, wie sich die Fugen der Welt verzogen, aber ich habe es nicht für wichtig gehalten... so wenig kommt mir noch wichtig vor, außer Sonne und Regen.
Eragon sagte: Wir heilen deine Wurzel und deinen Stamm, wenn du willst, aber können wir bitte das Erz haben?
Die anderen Bäume stöhnten und ächzten wie verlorene Seelen, dann ließ sich die Stimme wieder vernehmen, diesmal sanft und schmeichelnd:Wirst du mir als Gegenleistung das geben, was ich verlange, Drachenreiter?
Ja, sagte Eragon, ohne zu zögern. Wie hoch der Preis auch sein mochte, für das Schwert eines Reiters würde er ihn mit Freuden zahlen.
Nun wurde die Krone des Menoa-Baums ruhig und minutenlang herrschte Stille auf der Lichtung. Dann bebte die Erde, und die Wurzeln zu Eragons Füßen fingen an, sich zu winden, zu knirschen und dabei Borkenstücke abzuwerfen, während sie sich zurückzogen und ein nacktes Fleckchen Erde sichtbar wurde, aus dem etwas auftauchte, was aussah wie ein verrosteter Eisenklumpen von rund zwei Fuß Länge und einem halben Fuß Breite. Als das Erz oben auf dem Erdreich lag, verspürte Eragon ein leichtes Stechen im Unterbauch. Er krümmte sich und rieb sich die Stelle, aber da war der Schmerz schon wieder vorbei. Die Wurzel um seinen Fußknöchel löste sich und verschwand im Boden. Auch die Wurzeln, die Saphira gehalten hatten, gaben sie frei.
Da habt ihr euer Erz, wisperte der Menoa-Baum. Nehmt es und geht...
Aber...
Geht schon... wiederholte der Menoa-Baum, und seine Stimme wurde immer schwächer. Geht... Nach und nach verließ der Baum Eragons und Saphiras Bewusstsein und zog sich immer tiefer in sich selbst zurück, bis Eragon ihn kaum noch spüren konnte. Die Kiefern am Rande des Waldes hatten ihre bedrohliche Haltung verloren und sahen aus wie immer.
»Aber...«, murmelte Eragon jetzt laut, verwirrt, dass der Menoa-Baum nicht gesagt hatte, was er für die Gabe verlangte.
Kopfschüttelnd ging er zu dem Erz hinüber, schob die Hand unter die Kante des metallhaltigen Steins und hievte den Brocken ächzend hoch. Er hob ihn sich vor den Brustkorb, wandte sich von dem Menoa-Baum ab und machte sich auf den langen Fußmarsch zu Rhunöns Haus.
Saphira gesellte sich zu ihm und beschnüffelte den Stein neugierig. Du hattest recht, sagte sie, ich hätte sie nicht angreifen sollen.
Wenigstens gehört der Sternenstahl jetzt uns, sagte Eragon, und Linnëa... also, ich weiß nicht, was sie bekommen hat, aber wir haben, was wir wollten, und das ist die Hauptsache.
Die Elfen sammelten sich neben dem Pfad, den Eragon sich ausgesucht hatte, und starrten ihn und Saphira so entgeistert an, dass Eragon seine Schritte beschleunigte, weil ihm die Haut im Nacken kribbelte. Sie sprachen kein Wort, sondern blickten ihn nur aus ihren schräg stehenden Augen an wie ein gefährliches Tier, das durch ihre Häuser schleicht.
Ein Rauchwölkchen stieg aus Saphiras Nüstern. Ich glaube, sagte sie, wenn Galbatorix uns nicht vorher umbringt, werden wir das noch einmal bereuen.

 

 

Die Weisheit des Feuers
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